von Eduard Bütow Schwerin, Bug-Holländer aus Deutschland
08.12.2008
Schon 100 Jahre leben unsere Landsleute, Golendry oder Holendry genannt, in Pichtinsk. Erst Stolypins Agrarreformen schufen die Grundlagen und Bedingungen zur freiwilligen Umsiedlung aus dem damaligen Wolhynien am Bug nach Sibirien. Kinderreichtum und fehlendes Land am Bug zwangen viele Familien zur Auswanderung. Drei Tage feierten vom 4. bis 6. Juli 2008 die Holendry ihr 100jähriges Jubiläum der freiwilligen Umsiedlung vom Bug nach Ostsibirien.
Zur Geschichte, Herkunft und dem Eigennamen Bug-Holländer
Die damalige Umsiedlung und Stolypins
Reformen sind ein Meilenstein in der Geschichte geworden. Kaum eine andere Siedlergruppe verbindet so deutlich die Untrennbarkeit der Reformen
Stolypins mit ihrer Ansiedlung, Herkunft, Geschichte und Entstehung der 3 Dörfer Pichtinsk, Srednii Pichtinsk und Dagnik vor 100 Jahren.
Die Trans - Baikal - Region, Bezirk Zalari ist die heutige Heimat der Holendry. In Sibirien sind die Identität, Geschichte und Traditionen am deutlichsten zu
erleben, da die Holendry als geschlossene Gruppe erhalten blieb. Ihre Geschichte vor der Umsiedlung beginnt mit der Ansiedlung an der Weichsel
und der Gründung des Holländerdorfes Nowa wies bei Graudenz 1564 und ihrer Weiterwanderung an den Bug 1617. Dort wurde von den Holendry als älteste
deutsche Siedlergruppe im Osten, die Mutterkolonie Neudorf-Neubrow und die erste evangelische Gemeinde mit einer Kirche gegründet.
Daher haben die sibirischen Holendry die gleichen Wurzeln und so viele Gemeinsamkeiten mit allen Bug-Holländern. Am deutlichsten belegen
heute die Familien- und Beinamen diese Gemeinsamkeit und die Herkunft der Vorfahren von den Kolonien Neudorf-Neubrow, Zabuskie-,
Swierzowskie- Holendry, Noviny und Zamostecze am Bug. Schon in Polen und am Bug haben die Holendry als Spezialisten für Urbarmachung,
Rodung, Entwässerung sowie bei Erdarbeiten ihre Pionierrolle bei der Kultivierung des Landes bewiesen. So entstand auch ihr Eigenname
BUG-HOLLÄNDER (Zabushske Holendry). Aus Unkenntnis über die Siedlungsform "Holländerei" als freie Bauern mit "Holländerrecht",
haben die preußischen Beamten nach den Teilungen Polens die unwissenschaftliche Bezeichnung "Hauländer" erfunden. Dies wurde von
einigen national-polnischen Pastoren/Historikern übernommen, um die Holendry als Ur-Polen zu definieren. Die Holendry waren und sind eine
ethnische und historische Besonderheit. Die Enzyklopädie von 1909 bestätigt diesen Fakt. In Sibirien wurden die Holendry erst 1994 durch
Mitarbeiter des Museums Zalari und vom Irkutsker Zentrum zur Erhaltung des historisch-kulturellen Erbes unter Mitwirkung der Historikerin
Natalja Galetkina wieder entdeckt. Die Architektur und Eigenart in der Lebens-, Bau- und Wirtschaftsweise fiel den Mitarbeitern auf.
Äußerlich waren es die Einzelhöfe, Bauten in der Bohlenbauweise mit Wohnhaus, Stall, Tenne, Heuboden, Lagerraum unter einem Dach.
Die Siedlungsform und die Bohlenbauweise entsprechen den niederdeutschen Traditionen seit dem 12. Jahrhundert. Galina Makagon,
Direktorin des Museums Zalari schreibt: "Unter den Minderheiten vom Umsiedlertyp mit deutlichem Erhalt der Ethnographie und Architektur
sind die Pichtinsker die am meisten vorzeigbare und urwüchsigste Gruppe." Sie lebten versteckt in den Weiten der Taiga, konnten
Ihre Arbeits- und Lebensweise und die Traditionen bewahren.
Eindrücke und Erlebnisse beim Jubiläum
Unser Besuch fand auch große Beachtung bei den Landsleuten, Gästen und Medien. Besondere Anerkennung verdient die Planung, Organisation
und Durchführung des Jubiläums bei dem Arbeitsstab unter Leitung von Iwan Sigmundowitsch Selent und dem folgenden Leiter Petr Martinowitsch Ludwig. Der Stab konnte
sich auf seine Mitglieder verlassen, hat eine aktive Beteiligung der Mitglieder des Stabes und aller Bewohner organisiert. Die Enthüllung der
Gedenksteine, Herausgabe des Jubiläumsbuches "Schicksale der Generationen", die Präsentation im Museum aber besonders die Finanzierung
aus freiwilligen Spenden der Holendry sind hervorragende Leistungen unserer Landsleute. Von den vielen Helfern und aktiven Förderern muss
man neben der Bezirksverwaltung, die Direktorin des Landeskunde-Museums Zalari und den Direktor Tichonow vom Architektur- und Ethnographischen
Museums Talzy besonders hervorheben. Über die große aktive Beteiligung der Nachkommen aus den 3 Dörfern und ihrer Verwandten aus den umliegenden
Regionen waren wir, die vielen Gäste und alle Anwesenden sehr beeindruckt. Ein Beweis waren die anwesenden 3 Fernsehstationen sowie die
Pressevertreter. Die faszinierenden, unbeschreiblichen Erlebnisse an den 3 Jubiläumstagen sowie den folgenden Begegnungen bei vielen
Familien in Pichtinsk, Srednii, Dagnik, Tscheremschanka, Chanshinowo Schelechow und Irkutsk haben meine vorhandenen Zweifel am Überleben
der unikalen ethnischen Gruppe genommen und mir eine starke Zuversicht für die künftige Bewahrung gegeben. Der Aufruf der Direktorin
Galina Nikolajewna Makagon vom Landeskunde- Museum Zalari, "zum Erhalt der Pichtinsker Holländer und Ihr Projekt des "Goldenen Ringes"
ist überall angekommen. Wir folgten dem Ruf von Sigmund Andrejewitsch Selent in der Chronik von 1974. Zum Jubiläum haben mit mir und
Bruder Waldemar waren dabei: Elfriede geb. Ludwig(Zabuskie-Holendry und Johann Popko (Zamostecze), Frieda Klemmer geb. Rill sowie
Karl-Heinz Hüneburg. Die Vorfahren von Frida und Karl-Heinz stammen aus Swierzowskie-bzw. aus Zabuskie-Holendry. Schon die Namen belegen
unsere gemeinsame Geschichte und Herkunft vom Bug. Unsere und die Vorfahren der Sibirier, Großväter und Väter sind noch in den Kolonien
der Bug-Holländer Neudorf-Neubrow, Noviny, Zabuskie oder Swierzowskie Holendry und Zamostecze geboren. Auch die Kundschafter/"Chodok"
hatten gleich lautende Namen Hinborg, Bütow, Kunz und Hildebrand wie auf dem kleinen Gedenkstein dokumentiert. Die ersten Namen der
Kolonien in Sibirien hießen Zamostecze und Noviny, heute Pichtinsk und Srednii Pichtinsk. Das Fest wurde am Freitag dem 4.Juli 2008 auf
den Wiesen von Pichtinsk an der Tagna mit Sportwettkämpfen der drei Dörfer, Liedern, Hissen der Fahne und einem Jubiläumsfeuer eröffnet.
Am 5. Juli fand in Srednii am Klubhaus die zentrale Feier mit Festreden, Enthüllung der Gedenksteine aus schwarzem Marmor sowie
traditionellen Liedern und Tänzen statt. Der Landrat des Bezirks Zalari, der polnische Generalkonsul, Der Obmann für Menschenrechte
und Nachkomme der Golendry Iwan Sigmundowitsch Selent begrüßten die Golendry, Ihre vielen Verwandten, die anwesenden Gäste und unsere
Delegation aus Deutschland. Die Redner würdigten die großen Leistungen und die Opferbereitschaft der Siedlergruppe der Holendry, ihre
kultur-historische Rolle in Sibirien. In die Schar der Gratulanten haben wir uns mit dem Grußwort, auf Russisch eingereiht. Es wurde von
mir und Pastor Thomas Graf Grote (Schelechow) vorgetragen und mit starkem Beifall aufgenommen. Auch die übereichten Geschenke sowie die
Spende von 21.000 Rubel von deutschen Landsleuten und Freunden der Holendry aus Mecklenburg-Vorpommern und Deutschland fand große Beachtung
und sind Ausdruck von Anerkennung und Unterstützung. Für die Zukunft wünschen wir und alle Landsleute in Deutschland den Nachkommen der
Golendry in Sibirien Gesundheit, Glück und Erfolg beim künftigen Erhalt dieses " einzigartigen ethnischen Schatzes in der sibirischen
Taiga". Weitere Grußbotschaften aus Deutschland überreichte ich Petr Ludwig, sie waren: - Vom Obmann der Wolhyniendeutschen im Hilfskomitee
der evangelisch - lutherischen Kirche Hannover, Pastor Oliver Behre einschließlich des Historischen Vereins Wolhynien, dem neuen Vorsitzende
Gerhard König und dem Vorsitzender des Wolhynier-Umsiedler-Museum Linstow, Johannes Herbst. - Von der Vorsitzenden der Freundschaftsgesellschaft
Osteuropa des Landes Mecklenburg - Vorpommern Frau Kerstin Voigt in Russisch. Bewegend für alle Anwesenden war nach Enthüllung der Gedenksteine
die Einweihung mit einem polnischen Psalm, der von Adolf Kunz vorgetragen wurde. Aber Polnisch verstehen nur noch die Älteren. Daher betete
anschließend die Gemeinde mit dem künftigen evangelisch-lutherischen Pastor Tomas Graf Grote aus Schelechow das "Vater unser" auf Russisch.
Das Jubiläum wurde auf diese Weise zum Auftakt für den Aufbau einer lutherischen Gemeinde mit der russischen Sprache. Die Jugend und die
jüngere Generation wird so zum lutherischen Glauben geführt und die vom katholischen Pater Ignacio vermittelten guten Grundkenntnisse der
Bibel und Liturgie nicht verloren gehen. Das 100 jährige Jubiläum ist dem Charakter und Leistungswillen unserer Vorfahren und ihren
fleißigen, aktiven Nachkommen, den. Söhnen, Töchtern, Enkeln und Urenkeln zu verdanken. Jung und Alt war dabei eingebunden. Die
Nachkommen haben ihren eingewanderten Vorfahren besonders im Jubiläumsbuch und den Stammbäumen ihrer Familien ein Denkmal gesetzt.
Dafür sprechen die enthüllten Gedenksteine, das Jubiläumsbuch, die Präsentation im Museum und die Veranstaltungen an den Jubiläumstagen.
Dabei wurde auch Archivmaterial aus St. Petersburg, Irkutsk und Zalari gesucht und gefunden. Die Inschriften der Denkmalsteine aus
schwarzem Marmor am Dorfeingang von Srednii vor dem Klub spiegeln die Geschichte der Holendry und erinnern an die historische Bedeutung
der Agrarreformen Stolypins, die erst die erfolgreiche Ansiedlung von Bauern, auch der Vorfahren ermöglichte. Die Bilder zeigen die Inschriften
in Russisch. Die deutsche Übersetzung lautet- 1.Großer Gedenkstein enthält den Luther-Psalm: "Ein feste Burg ist unser Gott", das Lutherkreuz und
die Lutherrose. Das bekundet den festen Glauben und die Frömmigkeit der Holendry. Auf der anderen Seite lautet die Inschrift: "Den Opfern des
Großen Vaterländischen Krieges, der Arbeitsarmee und der Repressionen." 2. Kleiner Gedenkstein: Dem Gedenken an die ersten Kundschafter/Chodoky
in Pichtinsk: Hinborg Andrej/Barbas; Hildebrand Andrej/Tokar (Drechsler); Bütow Iwan; Kunz Petr. Ganz unten "100 Jahre Pichtinsk - enthüllt am
05.07.2008" Gleich nach der Enthüllung und den folgenden Tagen nahmen die Bewohner mit ihren Gästen diesen Ort in Besitz. Es gab kaum eine
Familie, die sich nicht zum gemeinsamen Foto am Denkmal traf und so die historische Bedeutung dokumentierte. Wie am Bug, in den ersten
Jahren der Ansiedlung gilt auch heute noch der Lebens- und Arbeitsgrundsatz "Alle für Einen. Einer für Alle ." Den Siedlertyp in Regionen
mit extremen Bedingungen hat Prof. Seraphim beschrieben: "nüchterner Sinn, Härte gegenüber sich und seiner Mitwelt, Zähigkeit, Fleiß und Ausdauer".
Nur ein Menschenschlag, dem das Wesen des Kolonisten so stark im Blute steckt und er mit ausgesprochener wirtschaftlicher Strebigkeit ein tiefes
Gottvertrauen verbindet, ist befähigt, jenes Maß an Entbehrung auf sich zu nehmen, das allein zum Erfolg führen konnte." Diese Eigenschaften
und Fähigkeiten verbunden mit dem lutherischen Glauben haben es mit sich gebracht, dass die geschlossene Gruppe der Golendry in der Taiga überlebte,
bis heute erhalten blieb und ihr Leben in der Zukunft erfolgreich gestalten wird. Am Sonntag wurde das Fest in den Dörfern und Familien mit deren
Verwandten und Gästen begangen. Dazu gehörte auch der Gang zum Friedhof in Pichtinsk und Dagnik, um den verstorbenen Erstsiedlern und den Toten der
ersten und zweiten Generation ihre Ehre zu erweisen und ihnen zu gedenken. Schon seit mehr als 10 Jahren nach dem ersten Pichtinsker Treffen 1994
rufen die Pichtinsker Dörfer eine große Aufmerksamkeit in der Gesellschaft hervor sagt Galina Makagon. Wissenschaftler, Medien sowie die Vertreter
des Gebiets und ganz Russlands wie N. Galetkina im Journal Westnik EWRASIJ Moskau 1998, Anatoli Golumbowski in ITOGI, Moskau 31. Mai 2002 mit
einmaligen Farbfotos von Alexander Sorin und der Korrespondent Nikolai Widonow von "Stimme Russlands" Mai 2008. Eine tragende Rolle haben aber
das Museum in Zalari und der Verlag sowie das Museum Talzy. Die Direktorin N. Makagon hat es trotz großer Schwierigkeiten geschafft, dass 1992 der
Pichtinsker Komplex für Zalari bestätigt wurde. N. Makagon war auch Initiator aktiver Förderer der Pichtinsker Treffen in Zalari und
Pichtinsk. Das 1. Treffen der Holendry fand 7.10. 1994 in Pichtinsk statt. Danach wurden diese Treffen regelmäßig in Pichtinsk und Zalari
durchgeführt. 1997 beim Treffen in Zalari präsentierte N. Galetkina " Die Geschichte/ Herkunft im Journal " Semlia Irkutskaja" Beim Pichtinsker
Treffen 2003 fand u.a. die Präsentation meines Buches "Bug-Holländer in Wolhynien statt. Bei meinem 1. Besuch 2004 begleitete G. Makagon nach
Pichtinsk, wo wir Erfahrungen, Literatur, Bilder und Dokumente austauschten. Auch international fanden die Holendry große Beachtung.
Wissenschaftliche Informationen sind der Historikerin N. Galetkina und dem holländischen Journalisten Bart Rijs zu verdanken. Mit beiden habe ich
Informationen und Forschungsergebnisse über die Holendry ausgetauscht. Natalja Galetkina besuchte 1994/95 die Bug-Holländer in Deutschland und
begleitete mich bei meinem Sibirienbesuch 2004. In den 3 Dörfern der Holendry haben wir gemeinsam viele Informationen aus Gesprächen mit den
ältesten Zeitzeugen gesammelt. Danach haben wir die verfügbaren Ergebnisse ausgetauscht. Das brachte für uns beide aber besonders für die Holendry
sehr gute Erkenntnisse. Bart Rijs besuchte mich in Schwerin. Für sein geplantes Buch wurde ein umfassendes Interview gemacht und ich übergab ihm
als Unterstützung eine Diskette über mein Buch in Arbeit befindliches Buch "Bug-Holländer in Wolhynien". Er besuchte anschließend die früheren
Kolonien am Bug. Im Dorf Rowno woran früher die Kolonie Zamostecze grenzte, konsultierte er auch unseren ukrainischen Freund Iwan Formanjuk.
Im Sept. 2000 begegneten wir uns zum Wolhyniertreffen des Historischen Vereins in Uelzen. Dort konnte ich ihm mein inzwischen herausgebrachtes
Buch "Bug-Holländer in Wolhynien - Spuren und Geschichte" für unsere Landsleute in Sibirien übergeben. Bart Rijs fuhr danach nach
Pichtinsk/Irkutsk 2005 brachte er sein Buch in niederländischer Sprache "Het hemels vaderland, Hollanders in Sibirie - Das himmlische Vaterland,
Holländer in Sibirien". Der Buchtitel ergab sich für Bart Rijs aus den gesprächen mit den ältesten Siedlern der Holendry, die Frage "Wer seid
ihr?" die Antwort bezüglich ihrer nationale Identität (Polen, Ukrainer, Deutsche, Holländer) gaben: wir sind Holendry unser "Vaterland ist im
Himmel ". Von Bart Rijs erhielt ich wertvolles Material (Dokumente, Bilder von Alexander Sorin und verschiedene Artikel in russischer Sprache.
Vieles davon wurde in meinem neuen Buch aufgenommen.
Zur Geschichte der Besiedlung Sibiriens
Die Geschichte Sibiriens unter russischer
Herrschaft begann mit der Eroberung durch die russische Kaufmannsfamilie Stroganow im 16. Jahrhundert. 1582 wurde das tatarische Chanat Sibirien
durch Kosaken unter Jermak Timofejewitsch erobert. Noch heute erinnert ein Obelisk mit Bildnis von Jermak an diese Zeit. - 1586 wurde die 1.
Sibirische Stadt Tjumen gegründet. Im 17. /18. Jh. erfolgte die Besiedlung mit russischen Bauern und Handwerkern überwiegend in Westsibirien. Bis zum
19.Jh. war Sibirien Lieferant kostbarer Pelze und Jagdgebiet für Jäger. Die Erschließung und Nutzung der vorhandenen großen Reserven war und ist
heute noch durch die große Entfernung sowie das Klima mit sehr extremen Arbeits- und Lebensbedingungen verbunden. Dauerfrostböden bis zu 100 m
Tiefe und hohe winterliche Temperaturen (bis Minus 43 Grad), waren das größte Problem. Bis zur Jahrhundertwende 1899/1900 war die Besiedlung
Sibiriens unbedeutend und bestand aus 2 Seiten, durch den Staat und das Volk. In Sibirien war sie überwiegend durch den Staat über die Form der
Zwangsansiedlung von Dienstleuten, Militär bes. Kosaken, für die Grenzbesiedlung sowie Strafgefangener und Deportation bestimmt. Die Besiedlung
durch das Volk beschränkte sich auf die Übersiedlung von Dominalbauern besonders wegen Klima und Bodenbeschaffenheit nach Westsibirien (Tobolsk, Tomsk),
der erste Ukas des Zaren zur Besiedlung Ostsibiriens und der Region Transbaikal von 1799 war erfolglos, Korruption und Willkür stark verbreitet war.
Die Ansiedlung Ackerbau treibender Bauern war sehr gering. Größere Bedeutung erlangte danach Minister Speranski. Nach vorgelegtem Bericht von 1820
(von Jadrinzew) erfolgte durch Speranski die Revision der Selbstverwaltung, um Bestechlichkeit, Despotismus und praktizierte Willkür abzubauen.
Viele Klagen in St.Petersburg führten zum neuen Ukas von 1822, der auch den Erlaubnisschein über Entlassung der Übersiedler aus der Bauerngemeinde
und das Recht auf "Bauerndelegierte "zur Auswahl von Ländereien beinhaltete. Erst ab 1822 war Staat und Gesellschaft über die Missverhältnisse in
Sibirien aufgeklärt und begann es legitimes Tochterland des Zarenreichs zu betrachten. 1838 wurde das Ministerium für Staatsbesitz unter Graf Kiselew
gegründet. Diese liberale Kiselewsche Periode 1839-1865 war besonders durch humanistische Bemühungen für die Auswanderer gekennzeichnet. Dadurch
wurde die Übersiedlung von Bauern der Staatsdomänen nach Sibirien ermöglicht, um der Leibeigenschaft, wirtschaftlichen Lage und religiösem
Druck zu entgehen. Für Steppengebiete wurden je Familie 15 Dessjatinen Land zugesagt. Das belegen auch die festgelegten Privilegien vor
Ort wie: 100 Holzstämme + 20 Rbl je Familie, Aufschub der Militärpflicht und Steuerbefreiung auf 4 Jahre. Die große Masse der Leibeigenen von
Grundbesitzern wurde dadurch nicht erfasst. Die gesellschaftlichen Bedingungen in Russland und die Vormachtstellung der Gutsbesitzer verhinderten
noch lange eine Lösung in der Landwirtschaft. Am Krönungstag 1856 erklärte Alexander II: "Es ist besser die Leibeigenschaft von oben
herab aufzuheben, als zu warten, bis dieselbe von unten aufgehoben wird." Die Leibeigenschaft wurde 1861 aufgehoben. In Russland entstand ein freier
Bauernstand mit Menschenrechten ausgestattet. Aber die Zuteilung von Boden nach der Bauernbefreiung 1861 für die Kleingrundbesitzer, für die starke
Klasse von Bauern mit minimalem Landbesitz und die breite Klasse einer landlosen Bauernbevölkerung war zu gering. - Der Bodenmangel mit
Produktivität verknüpft. Besserer Ackerbau wie Fruchtwechselsystem und höhere Erträge durch besseren Samen + Bodendüngung, vollkommene Geräte.
Noch besaß die Interessengruppe der Gutsbesitzer zu viel Macht und Einfluss in der Landwirtschaft. Der damalige Innenminister Graf Tolstoi
begann den Prozess mit Hilfe einer Kommission zu liberalisieren die "Übersiedlung für Alle, die in ökonomischer Not sind, zu ermöglichen. Ab
1897 wurde die Funktion einer Erlaubnis auf die Gouvernements Administrationen übertragen. Das führte zur Einschränkung der freiwilligen
Auswanderung. Er brachte 1889 das Gesetz und Regeln über die Übersiedlung von Kronland das jedem Landbewohner und Bürger das Recht auf freie
Wanderung und eine finanzielle Unterstützung gewährte. Tolstoi war zu konservativ, er stellte die Interessen des Kronbesitzes und nicht die
Lebensanforderungen der Bauern und landlosen Bürgern in Vordergrund. Die formalistische Erteilung von Erlaubnissen bzw. Arbeit der eingerichteten
Kontore und Übersiedlungsfilialen an der Strecke, kam es zur unkontrollierten Umsiedlung und starken Rückwanderung. Die ereichten
Fortschritte waren daher gering. Im Agrarstaat Russland begann die Auswanderung (West- 1905 aus Russland nach Amerika: 184897 Seelen) bzw.
die Übersiedlung nach Osten/Sibirien ab 1900 und erreichte einen Aufschwung durch die Agrarreformen Stolypins. Zar Aleksander III. forderte
im Reichsrat die konsequente Realisierung der Besiedlung Sibiriens. Prof. Krahmer zitiert den Zaren bei der Beratung des Berichts des
Generalgouverneurs Graf Ignatiew: "Wie viele Berichte der Generalgouverneure Sibiriens habe ich gelesen. Und mit Kummer und Scham
muss ich eingestehen, dass die Regierung bis jetzt fast nichts getan hat, um die Bedürfnisse dieses reichen, aber vernachlässigten Landes zu
befriedigen. Es ist aber Zeit, hohe Zeit." Der größte Aufschwung durch
Erschließung begann mit dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn. Die TRANSSIB, 1891 - 1916 erbaut, ist mit 9302 km vom Jaroslawer Bahnhof in
Moskau bis Wladiwostok die längste Verbindung einer Eisenbahn der Welt. Sie wurde zum Haupttransportmittel und Haupterschließungsachse Sibiriens.
Der erste Spatenstich zum Bahnbau in Wladiwostok erfolgte durch Zar Aleksander dem II. am 31.Mai 1891. Nach Gründung des Komitees der
sibirischen Eisenbahn wurde am 2.Dez.1896 auch die Übersiedlungsverwaltung beim Minister des Innern gegründet mit klaren Pflichten. wie
Erlaubnisscheine, Verfügung über Kredite und alle erforderlichen Maßnahmen der Übersiedlung. Das Komitee für Übersiedlungs-Angelegenheiten
unter Staatssekretär Kulomsin wurde beauftragt, "die Ansiedlung Sibiriens in die Hand zu nehmen und eine Regulierung in der Übersiedlungsfrage
herbeizuführen. Ihm unterstand das Komitee für die Feststellung tauglicher Gebiete und Bodenregulierungsarbeiten. In St. Petersburg bestand die
Zentralstelle für Bodenregulierung und Landwirtschaft. Als Ziele galten: - Einschränken von Formalismus bei Übersiedlung und Ansiedlung -
Verbesserung der ärztlichen Organisation und der sanitären Verhältnisse - Regelung der Landaufteilung für Ansiedler. Unter Führung des Komitees
(Kulomsin, Tschichajew) wurden auch Expeditionen zur Feststellung tauglicher Gebiete und Bodenregulierungsarbeiten unternommen. enthielt
klare Pflichten einschließlich Regelungen über die Bauerndelegierten/Chodoky Jedem stand das Recht zu, einen Chodok zu entsenden, der nicht unter
Gericht stand. Von Familien bzw. Gemeinden ausgesandte Chodoky, konnten die neu zu besiedelnden Plätze einer Besichtigung unterziehen,
um sodann eine Wahl zu treffen. Der Artikel 7 des neuen Gesetzes legte fest: "Die von den Chodoky ausgewählten Parzellen werden den
lokalen Behörden, die die Besiedlung leiten, auf 2 Jahre für die Übersiedler zur Verfügung gestellt. Das am 6.Jan. erlassene
Übersiedlungsgesetz stellte einen großen Fortschritt gegenüber allen vorherigen Gesetzen dar. Eine besondere Kommission unter Vorsitz von
Kulomsin und der Teilnahme von 3 Ministern und mehreren Generalgouverneuren untersuchte die Übersiedlungsfrage. Folgende Ziele
wurden vom Reichsrat beraten und bestätigt: 1. Als Mittel zur Verbesserung der Lage der landbedürftigen Stammbevölkerung 2. Zur Stärkung der
russischen Macht in den entfernten Grenzgebieten
Die Agrarreform in Russland und Stolypin
Stolypin Pjotr Arkadjewitsch war von 1906-1911 ein konservativer Innenminister und Ministerpräsident der zaristischen Regierung. Seine
Agrarreform legte den Grundstein für eine auf den Markt orientierte, mit besonderer Hervorhebung des Privateigentums für die russischen Bauern
ausgerichtete Landwirtschaft. Stolypin übernahm in Folge von Bauernrevolten von 1902 in den Gouvernements Tschernigow
/Poltawa die Vorschläge des damaligen Finanzministers Witte aus dem Übersiedlungsgesetz vom 6.Juni 1904. Mit Ukas vom 10.März 1906 wurde die
freie Übersiedlung mit Privilegien und konkreter Unterstützung der Übersiedler proklamiert. Aber der Ukas vom 9. Nov. 1906 wurde das Recht
auf individuellen Landbesitz festgeschrieben und die traditionelle Form der "Semstwo Organisation Obschtyna die im europäischen Russland
erfolgreich war, wurde vom Reichsrat abgelehnt und von der Regierung abgeschafft. Bei der Bewertung der Besiedlung Sibiriens schreibt Rietsch
1912: "Das Recht zur Organisierung von Genossenschaften, Artelen/Assoziationen hätte zum Ankauf von Geräten, Sämereien, Düngemitteln verholfen
und gleichzeitig einen größeren Absatz von Landprodukten gebracht. Dieser Eingriff der Regierung, förderte in Sibirien den Einzelbesitz und es
konnten sich nur wirtschaftlich kräftige Bauern ansiedeln. Für finanziell schwache Übersiedler wurde die Auswanderung behindert in dem man ihnen
die Unterstützung vorenthielt. Dadurch wurde der große Erfolg in der Übersiedlungsfrage verhindert. Denn an die Stelle von zehntausenden von
Übersiedlern stieg nur die Anzahl finanziell starker Gutsbesitzer." Untersuchungen der Universität Zürich von 1913/14 belegen diesen negativen
Trend durch Befragung von 1002 Familien, die 1907 auswanderten. Es wurden keine Auswanderer nach Ostsibirien ermittelt. 84,2 % waren Analphabeten,
25 % waren landlos und 23,7% besaßen 4-6 Dessjatinen. Das nach Sibirien mitgebrachte Geld hat bei 39,9 % = 50-100 Rbl, bei 45,5 % = 100-300 Rbl
betragen. Durch Stolypin wurden viele hemmende Beschränkungen ab 1907 aufgehoben. Das Recht auf freien Austritt aus der Gemeinde und Übergang der
Parzellen in persönlichen Besitz ermöglichte den Übersiedlern, sich ihres Landteils zu entledigen und Mittel für die Übersiedlung zu erhalten.
Die Einwanderungsgeschichte der Holendry und Stolypins Agrarreform
Das altrussische Sprichwort über Sibirien: "100 Rubel sind kein
Geld, 100 Jahre kein Alter, 100 Kilometer keine Entfernung" bestimmte auch die Geschichte und das Leben der Holendry. Schon unter den Zaren und später
unter Stalin waren die entlegenen Siedlungen Ostsibiriens Verbannungsorte für Sträflinge und politisch Verfolgte. Nach Niederschlagung des
Aufstandes der Dekabristen am 14.Dez. 1825 in St. Petersburg wurden die Gefangenen nach Sibirien verbannt. Bis nach Europa verbreitete sich bei
Ungehorsam das bekannte Sprichwort: " Ab nach Sibirien. Trotz dieses Schreckgespensts, entschieden sich die Familien zur freiwilligen
Umsiedlung. Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 und der Bau der Transsibirischen Eisenbahn ab 1891 schufen die Grundlagen zur Übersiedlung.
Stolypin übernahm die Vorschläge des Finanzministers Witte und proklamierte mit Ukas vom 10.März 1906 die freie Übersiedlung mit
Privilegien und Unterstützung der Übersiedler. Nach Bestätigung durch
Reichsrat und Stolypins Besuch in Sibirien gab es dort nur weite
Waldflächen, Steppen, Moore, deren Kultivierung erforderlich war. Daher
mussten Maßnahmen zur Verbesserung der Bedingungen für die Ansiedlung
festgelegt werden. Unter Stolypin wurde eine bessere Kontrolle der
Einwanderung erreicht. Ab 1909 und 1910 wurde die freie Einwanderung nur
für Gebiete erteilt, wo der Einwanderer aber auf die größten
Schwierigkeiten bei der Kultivierung gestoßen ist. Dazu gehörte u.a. auch
die Region Trans - Baikal, die dann zur Ansiedlung der Holendry festgelegt
wurde. Nach Stolypins Sibirienreise mit Kriwoschein hieß es in seinem
Bericht - "Es war ein großer Fortschritt. " Die besten Ländereien sind
schon besetzt. Nur noch weite Waldflächen oder Steppen sind vorhanden,
deren Kultivierung den Übersiedlern sichere Mühen kosten würde. Aber
Sibirien ist noch so wenig erforscht, dass die zur Kolonisation taugliche
Landmenge groß ist." Sein Bericht zeigte einen negativen Trend. "In
Sibirien: ging es nur langsam voran und es harrt der Erschließung".
Maßnahmen der Regierung erwiesen sich bezüglich der Organisation der
Kolonisationsarbeit als unzureichend. Dabei erfordert die Vorbereitung
neuer Ländereien große finanzielle Ansprüche. Die nötigen Parzellen, Wege,
Brunnen sowie Stationen für ärztliche Hilfe wurden nicht gebaut. Starke
Übersiedlung erfolgte ohne Dokumente der Übersiedlungskommission. Das
führte dazu, dass die staatlichen Organe dem Strom der Übersiedler nicht
gewachsen waren, obwohl die Kredite von 5 auf 25 Mio, die Zahl der Beamten
des Übersiedlungswesens von 800 auf 3000 anstiegen. Eine besondere
Kommission untersuchte unter Vorsitz von Kulomsin, mit 3 Ministern und
mehreren Generalgouverneuren die Übersiedlungsfrage und erreichte die
Bestätigung vom Reichsrat. Zur Verbesserung der Lage der landbedürftigen
Stammbevölkerung und Stärkung der russischen Macht, wurden wichtige
Regelungen zur Erleichterung der Aussiedlung und Neuansiedlung
verabschiedet bzw erweitert. Es waren: - Entwässerungs- und
Bodenregulierungsarbeiten, um die Taiga sowie die Moorgegenden für die
Bodenkultur zugänglich zu machen - Erleichterung/Erweiterung der Arbeiten
der Besiedlungskommissionen, Anweisung von Geld für sanitäre und ärztliche
Hilfe und Errichtung von Kommunikationswegen in Form von Eisenbahn,
Chausseen und Landstraßen. - Vergünstigungen für Chodoky für
Eisenbahnfahrt, Delegiertenpapiere und Unterstützung durch die
Landhauptmänner und Umsiedlungskontore.. 1910 fuhren 4 Chodoky
(Kundschafter/Abgesandte der Übersiedler) nach Sibirien um die Grundstücke
auszuwählen. Ihr Partner war der Bauernführer Adam Adamowitsch Reinert, im
Umsiedler-Kontor in der Station Tyreti, der für das Umsiedlergebiet
Pichtinsk zuständig war. Die Chodoky hießen: Andrej Hinborch, Iwan
Hildebrand, Iwan Bütow und Peter Kunz. Jeder von ihnen war
Bevollmächtigter von Familien vom Bug Beim Bauernführer Reinert wurden die
Pichtinsker Grundstücke zur Ansiedlung festgelegt, die im Sajaner
Vorgebirge abseits von der Eisenbahn und von Dörfern Alteingesessener
lagen. Hier wurden für die ersten Holendry 24 Anteile, von je 15
Desjatinen eingetragen. 1911 kamen die ersten Umsiedlerfamilien (2). Im
Frühjahr 1912 kam die weitere Gruppe von 200 Umsiedlern nach Pichtinsk,
Kreis Balagansk Gouvernement Irkutsk und gründeten die Dörfer Nowiny,
Zamostetsche und Dagnik. Ludwig, Martin Martinowitsch, der Großvater von
unserem Gastgeber Petr Ludwig kam mit seiner Familie 1911 in Dagnik an.
"Zusammen mit meinem Großvater kamen 1911 zwei weitere Familien an. So
wurde der Grundstein für Dagnik gelegt." Sie fuhren mit der Eisenbahn von
Brest über den Jaroslawer Bahnhof Moskau und dann weiter mit der
Transsibirischen Eisenbahn - TRANSSIB bis zum Bahnhof Zalari. Sie haben
alle möglichen Haus- Wirtschafts- und Arbeitsgeräte besonders Pflüge,
Spinnräder, Webstühle, Fässer, und Arbeitswerkzeuge in Waggons verladen.
In Zalari wurden Wagen und Pferde gekauft und es ging die letzten 80
Kilometer mit Pferdegespannen zu den ausgesuchten Grundstücken in der
Taiga. Wie Abenteurer müssen sich diese Umsiedler vorgekommen sein. Sie
fanden nicht die gewohnten Flussniederungen wie am Bug, sondern Bäume
nichts als Bäume, Bäche, undurchdringliches Gestrüpp, und Sümpfe vor.
N.Galetkina gibt die Erinnerung an die Ankunft von Karl Grigorewitsch
Ludwig wieder: "Es war ein so dichter Wald, dass man von einem Haus nicht
das nächste sehen konnte." Mann musste sich zuerst mit der Rodung
beschäftigen. Der Staat unterstützte die Siedler, indem er neben dem
Hauptdarlehen für die Ansiedlung noch zusätzliches Geld für jedes gerodete
Grundstück zahlte. 1912 gibt es den ersten Arztstützpunkt im Dorf Tagna,
Balagansker Landkreis. Im gleichen Jahr wurde aus abgeschlagenen Zweigen
ein Weg zwischen Sablagar und Chargun (45,1 Werst) gebaut. Wege führen an
den Siedlungen: Dmitrijewka, Mostowka, Metelkino, Isakowka,
Tscheremschanka, Kamenka, Pichtinsk vorbei. Im Pichtinsker Abschnitt
betrug die Wegelänge 32 Kilometer. Für den Bau benötigte man 3 Jahre (1909
-1912). Kosten des Weges 29.551 Rubel Auch Bart Rijs berichtet 1998 über
die Anfänge und gibt die Aussage des mit 95 Jahren ältesten Pichtinsker,
Gustav Ludwig wieder, der die Umsiedlung nach Pichtinsk erlebte: " Die
ersten Jahre wohnten wir in Erdhütten und mein Vater hat den Wald mit
seinen bloßen Händen gerodet. Dann hat er das Haus gebaut, in dem wir noch
wohnen." Er kannte auch das Hauen der" Pfote" und des "Schwalbenschwanzes
beim Häuserbau.
Religion und Frömmigkeit
Der Aufbau,
Erhalt und Sicherung des Hofes unter den erschwerten Bedingungen waren nur
auf einer von Frömmigkeit und Religiosität geprägten Grundhaltung und in
enger Gemeinschaft möglich. Bei ihrer abgeschlossenen Lebensweise wie am
Bug, nahm ihr evangelischer Glaube einen festen Platz ein. Sie wählten den
Lehrer Wilhelm Hildebrand als Prediger, der die Lesegottesdienste bis zu
seinem Tode 1925 durchführte. Auch die Schule in polnischer Sprache fand
in seinem Haus statt. Danach wurde A. M. Selent als Religionslehrer
gewählt und leitete die gottesdienstlichen Aufgaben bis zu seiner
Internierung 1929. Die Gebetbücher, Bibel und das Gesangbuch mit gotischen
Buchstaben (Kantional Pruski), hatten einen Ehrenplatz in jeder Familie.
Unterstützung erhielten sie vom evangelischen Pastor Waldemar Sibbul aus
Irkutsk. Sibbul, erster Pastor der evangelisch.-lutherischen Kirche aus
Irkutsk kam 1912 nach Pichtinsk Im Brief vom 14.Aug.1912 an den Chef für
Landwirtschaftliche Angelegenheiten des Gouvernements Irkutsk Adam
Adamowitsch schreibt er über die Holendry: " Die Leute sind arbeitsam,
jung, strenggläubig und kennen die rationelle Bodenbearbeitung, sind aber
arm." Gleichzeitig bat er um Finanzierung des Baus des Bethauses, wofür
der Bauplatz am heutigen Klubhaus bereitstand. Pastor Sibull segnete auch
den Platz für den Friedhof zwischen Pichtinsk und Srednii Pichtinsk. Doch
der inzwischen ausgebrochene 1.Weltkrieg verhinderte den Bau des Bethauses
und hemmte den begonnenen Fortschritt. Daher mussten die streng gläubigen
Lutheraner im Privathaus zum Gottesdienst und Gebeten zusammenkommen. Nach
der Revolution, der einsetzenden Kollektivierung sowie der sozialistischen
Erziehung der Kinder, wurde die Religion in den 30 er Jahren besonders bei
der Jugend verdrängt. 1994 luden die Pichtinsker den katholischen Pater
Ignaci Paulus ein. Über den gemeinsamen Gottesdienst mit dem Pastor
schreibt Anatoli Golubowski in " ITOGI " Moskau 1998: " Nun kommt Pater
Ignaci jeden Monat hierher. Das ist meine geliebte Kirchengemeinde. Sie
sind sehr natürlich und rein in den Beziehungen mit Gott. Diese
Natürlichkeit darf man durch katholische oder beliebig andere Zeremonien
nicht zerstören. Zu Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen wird der Pater nicht
eingeladen, alles machen sie selbst, wie sie es gewohnt sind. Dabei
verhalten sich die Pichtinsker zu ihm freundlich. Der Gottesdienst
verläuft so: Zuerst liest einer von den Alten das "Vater Unser" auf
Polnisch. Dann liest Pater Ignaci die Messe auf Russisch. Und nach
anschließenden lutherischen Psalmen auf Polnisch, setzen sich alle an den
Tisch, sprechen über Gott, trinken, essen etwas und singen auf Russisch so
ähnlich wie " Ach Frost, Frost..." Pater Ignaci hat im Jubiläumsbuch eine
Hymne an Pichtinsk geschrieben. Zu den ältesten wie Rudolf Hildebrand,
Adolf Kunz hält er noch brieflichen Kontakt. Bei der Begegnung 2008 wurden
mir die Briefe mit Achtung gezeigt.
Beispiele von
Übersiedlern/Auswanderern
Über die Übersiedlung der Bug-Holländer
nach Sibirien mit konnte ich bisher wenig genaue Angaben von Namen,
Kolonien und Zeitraum mit sicheren Dokumenten finden. " Beschluss der
Gemeinde Zabuskie-H vom Dez. 1913" in Russisch Von Zeitzeugen aus
Zabuskie-Holendry hat K.H. Hüneburg das Dokument ausfindig gemacht. Darin
fassten 38 Bauern von Zabuskie- H. den Beschluss, das von den Auswanderern
nach Sibirien verlassene Land zu übernehmen, um der Bauernbank die
Schulden aus dem Kaufvertrag von 1905 zu zahlen. Der Beschluss enthält die
Namen der Auswanderer nach und die Namen der Bauern, die deren Land
übernehmen. Die Ausgewanderten waren: Martin Martynowitsch Ludwig, Gotlib
Michaylowitsch Ludwig, Anna Martynowna Bytowa, Martin Christianowitsch
Ludwig, Grigorii Petrow Kunz, (könnte der Chodok Kunz Petr sein); Michail
Michailow Ludwig, Iwan Grigorew Hiniborg, Michail Martinow Kunz, Martin
Andreew Ludwig, Karl Michalow Hiniborg, Iwan Petrow Kunz II, Michail
Christianow Ludwig. Die letztgenannten Personen haben nichts gegen die
Übergabe zur unbefristeten Nutzung und Vererbung ihrer Grundstücke an
obige übernehmenden Dorfmitglieder. Übergabe von Auswanderer Dessjatinen
Übernahme von Bauer aus Zabuskie - Martin Martynowitsch Ludwig- 3,0 Iwan
Andreewitsch Kunz - von Gotlib Michailowitsch Ludwig- 2,9 Iwan
Martynowitsch Kunz - von Anna Martynowna Bytowa- 1,0 Karl Iwanowitsch
Ludwig - von Martin Christianowitsch Ludwig 0,52 Michail Grigorewitsch
Ludwig - von Michail Michailow Ludwig- 2,85 Iwan Iwanowitsch Ludwig - von
Iwan Grigorew Giniborg 3,62 Iwan Grigorew Hiniborg - von Michail Martynow
Kunz- 4,29 Andrej Iwanowitsch Kunz - von Martin Andreewitsch Ludwig- 4,0
Andrej Andreewitsch Ludwig - von Karl Michailow Hiniborg- 3,9 Andrej
Michaylowitsch Hiniborg - von Michail Michailow Ludwig- 2,69 Karl
Michailowitsch Hiniborg - von Iwan Petrow Kunz - 1,8 Petrowitsch Kunz -
von Iwan Petrow Kunz - 1,61 Iwan Andreewitsch Kunz - von Iwan Andrew Kunz
- 5,17 Michail Andreewitsch Kunz - von Michail Christianow Ludwig - 2,48
Wilhelm Grigorewitsch Ludwig - von Martin Martinow Ludwig - 2,40 Karl
Iwanowitsch Hildebrand Mit Unterschriften und Siegel wird die Richtigkeit
bestätigt: Siegel und Ältester des Amtes Guschtscha: Power, Schreiber des
Amtes Guschtscha Mosgow Wo sie im Pichtinsker Raum angesiedelt wurden
konnte z. Zt. nicht ermittelt werden.
Über Namen, Herkunftsorte
und Orte der Ansiedlung in Sibirien.
Erste Angaben im Kirchenbuch
der Irkutsker evangelischen Kirche Im Irkutsker Archiv liegen die Register
über die standesamtlichen Eintragungen der Holländer. - Geburten: Am
17./18.April 1911 kam das erste Kind in Pichtinsk zur Welt. Es war die
Tochter Bronislawa Selent, Vater Johann Selent und Mutter seine Frau
Natalija (geb. Popko). - Im Jahre 1914 wurden 15 Kinder geboren Die erste
Eheschließung fand am 24.Jan.1916 in Irkutsk bei Pastor Sibbul statt. Es
waren Adolf Ludwig und Paulina Rosalia Selent, beide in Neudorf-Neubrow
geboren. Weitere 2 Eheschließungen fanden am 26.Mai 1918 in Irkutsk statt.
Die Trauung durch Pastor Sibbul. Es heirateten: 1.Michael Kunz, geb. in
Zabuskie-Hollendry mit Anna Anita Hildebrand, geb. in Neubrow. 2. Peter
Kunz, geb. in Zabuskie-H. und Auguste Selent, geb. in Neubrow. Nach 4
Jahren entstanden 20 neue Familien durch Heirat der Einwohner von
Pichtinsk untereinander. Weitere Hochzeiten nach altem Brauch und nur
unter den "Seinen" wie am Bug fanden im Mai/Juni 1919 in Irkutsk statt.
Bei der Erforschung auf diesem Gebiet gibt es für Historiker, Ethnographen
und die Familienforscher in Deutschland und Sibirien noch viel zu tun.
Dabei sind die vielen guten Beiträge im Jubiläumsbuch und den
Familienstammbäumen im Pichtinsker Museum ein großer Fortschritt. Das
Material im Irkutsker Archiv und die metrischen Bücher des Standesamtes in
Chor-Tagna von 1921, wo lt. Galina Makagon 14 Einträge zu Bauern im
Pichtinsker Gebiet vorliegen, bieten weitere Quellen. Ferner ist die von
uns übergebene Disk mit metrischen Daten in Russisch und Deutsch für die
Jahre 1894-1913 in den Kolonien am Bug auch für die Vorfahren der
sibirischen Holendry eine gute Quelle. Dort haben wir 2 interessante
Dokumente vorgefunden. Dort sind u.a. der Großvater und Vater von Alvina
Adolfowna Selent geb. Kunz aus Pichtinsk erfasst. Großvater Kunz Michael
Michailowitsch 1879 und der Vater Kunz Adolf 1907 sind beide in Stulno am
Bug geboren. Der Grabstein auf dem Friedhof Pichtinsk von Kunz Adolf
bestätigt auch das Geburtsjahr 1907. Auch die Vorfahren von Natalia Ludwig
geb. Selent (Ehefrau von Petr Ludwig) aus Srednii Pichtinsk sind in der
Disk enthalten. Die Heiratsurkunde von 1882 über die Eheschließung im
Bethaus von Stulno betrifft den Bräutigam Martin Selent und die Braut
Rosalia Kunz. Martin Selent ist Sohn des Kolonisten und seiner Ehefrau
Anna geb.Ludwig in Stulno. Rosalia ist die Tochter von Andreas Kunz und
seiner Ehefrau Anna geb. Pastrik aus Stulno.
Über den
Chodok/Kundschafter Jan Bütow
Bei der Suche nach Spuren des
Kundschafters Jan Bütof in Sibirien gelang es mir die Verbindung zu meinem
Großvater gleichen Namens Jg. 1869 aus Zabuskie-H. zu finden. Die
vorliegende Geburtsurkunde mit hoher Wahrscheinlichkeit die Herkunft des
Kundschafters aus Stulno/ Zabuskie-Holendry. Er ist als Sohn von Andreas
Bütof und Anna geb. Ryll 1849 in Stulno geboren. Die Beziehung meines
Großvaters Jan Bütof zum Kundschafter kann als sicher betrachtet werden.
Die Geburtsurkunden von 1849 (Andreas Bütof) und 1873 von Sohn Jan(Johann)
Bütof D.2.17.1) sind der Beleg dafür. Die Weiterwanderung von Stulno über
den Bug nach Zabuskie-H. erfolgte nach 1873. Als Kundschafter in Sibirien
1910 hat er für bisher nicht bekannte Familien die Grundstücke ausgewählt.
Er selbst siedelte sich in Zamostecze, dem heutigen Pichtinsk an. In
erster Ehe sind die Töchter Tufilia (1908) und Sofia Iwanowna noch vor der
Umsiedlung in Zamostecze am Bug geboren. Sohn Gustaf Iwanowitsch ist schon
nach der Umsiedlung in Zamostecze(Pichtinsk) in 2. Ehe mit Elisbeta geb.
Kunz geboren. Sohn Gustaf Bütow hatte 4 Kinder (Töchter Augusta, Tufilia,
Soja und Sohn Emil.)die alle schon gestorben sind un wurden auf dem
Friedhof von Pichtinsk beigesetzt. Aus der Trudarmee kehrte der frühere
Kundschafter nicht mehr nach Pichtinsk zurück und ging in die Oblast Perm,
Kreis Dobranskii, Dorf Werchnii Lug. Dort sollen noch 6 Kinder und die
Urenkel Soja, Julia, Galja, Mischa, und Wanja leben. Die Tochter aus
erster Ehe Tufilia Iwanowna, verheiratet Kunz, lebte bis zu ihrem Tod am
13.Feb.2000 in Dagnik. In Dagnik leben noch die Enkel und Urenkel des
Kundschafters Jan u. a. Enkel Iwan Gustafowitsch Bütow mit seiner Familie,
die wir 2004 und 2008 besuchten. Die Auswertung der vorhandenen
Materialien wird sicher noch weitere Erkenntnisse bringen.
Die
Schicksalsschläge der Holendry
Das Leben der Bug-Holländer in
Sibirien wurde in den 100 Jahren besonders von 3 schweren
Schicksalsschlägen bestimmt, die auch die Geschichte des russischen
Imperiums prägten: Der 1.Weltkrieg, Revolution und Bürgerkrieg war die
erste große Prüfung. Sigmund Andrejewitsch Selent schreibt in seinem
historischen Tagebuch von 1974 dazu: " Den Vater nahmen sie zum
Kriegsdienst und wir blieben mit Mutter zu Dritt. Im Frühjahr starb das
Pferd. Im Sommer bezogen wir das eigene Haus. Es wurde durch die Nachbarn
zu Ende gebaut. Mama beschäftigte sich mit dem Garten, säte Lein, webte
Leinen, unterrichtete mich im Lesen und Schreiben. Durch den Krieg wurde
der geplante Bau des Bethauses verhindert. Die zweite Prüfung war die
Kollektivierung und Repressionen bis 1938. " Im Jahre 1929 gaben sie dem
Vater eine harte Aufgabe mehr Getreide abzuliefern. Die Familie wurde als
wohlhabend eingestuft und daher wurden die Abgaben an den Staat weiter
erhöht. Die Wirtschaft wurde konfisziert. A. Timtschenko schreibt in
Gaseta " Dorffneuigkeiten: " Im Oktober (1929) wurden beide Männer - das
Familienoberhaupt und Sohn Sigmund verhaftet. Sie wurden im Winter in die
Fabrik zur Holzbearbeitung geschickt und ihre Wirtschaft wurde vollständig
konfisziert. und alle Vorräte an Getreide und Kartoffeln wurden
abgenommen. Vater und Sohn wohnten in einer Baracke der Holzfabrik. Der
Lohn reichte kaum für die Nahrung. 1931 ließ man Sohn Sigmund nach Hause,
da die Familie mit 6 Personen nicht ohne Ernährer auskam. Er ernährte die
Familie zuerst mit Sammeln von Zedernnüssen in der Taiga. Er fuhr in die
Dörfer und tauschte die Zedernnüsse gegen Brot. 1932 konnte der junge
Hausherr schon 1 Pferd mit Spannzeug erwerben, der Onkel baute den
Pferdewagen und das Leben wurde leichter. Man konnte wieder pflügen, eggen
und große Entfernungen befahren, um Brot zu kaufen. 1935 starb die Mutter.
August 1935 traten wir mit Frau in die Kolchose "Mitschurin" ein. Für
einen Arbeitstag erhielten wir 800 Gramm Getreide und 40 Kopeken. Sie
besaßen 3 Kühe, 1 Pferd, Schweine. Im August trat Sigmund in die erste
Kolchose "Mitschurin" ein, der er das besäte Land, das Pferd und das
gesamte Inventar übergab. Behielt nur 1 Kuh, 1 Ferkel und Hühner, um die
Familie zu ernähren. Damals überführte man den Vater nach Tscheremchowo,
wo er im Schacht arbeitete. 1938 wurde der Vater nachts verhaftet und in
unbekannte Richtung transportiert. Bis heute wissen seine Nachkommen
nicht, wo seine Spuren zu suchen. sind. Mit Ausbruch des Krieges am
1.Sept.1939 gegen Polen wurde die nationale Frage besonders scharf
gestellt. Der 2.Weltkrieg und Stalins Diktatur brachte die höchste
Entwürdigung der Holendry. Sie wurden zu " Feinden des Staates erklärt und
in die Trudarmee" abkommandiert. S. A. Selent schildert sehr ausführlich,
wie sich für ihn und andere die "Verteidigung der Heimat" wandelte - ins
Konzentrationslager. In Gaseta " Dorf- Neuigkeiten von 1995 ist die
Lebensgeschichte und auch eine Würdigung von S. A. Selent enthalten. Im
März 1942 schickte uns das Wehrkreiskommando zur Verteidigung in
organisierter Form. An einem Tag wurden 65 Männer eingezogen. Im Dorf
verblieben nur Alte und Kinder. Von Bart Rijs gab mir aus dem Irkutsker
Archiv die Namensliste der internierten Holländer aus Pichtinsk mit
Geburtsjahr und Datum. Es wurden die arbeitsfähigen Männer und Frauen von
16 - 60 Jahren rekrutiert. Frauen, deren Kinder älter als 3 Jahre waren
gehörten dazu. In den Lagern waren sie oft mit deutschen Gefangenen
zusammen, also mit echten " Feinden des Volkes. Die Holländer wurden
schlechter behandelt als die wahren Feinde. Sie erhielten die körperlich
schwerere Arbeit und bei der Ausgabe sogar schlechteres Essen, "nur die
Wasserbrühe von oben". Mit 15 Jahren war Josef Ludwig Iwanowitsch der
Jüngste. Unter den 27 Frauen befanden sich 4 Mädchen im Alter von gerade
16 Jahren. Eine von Ihnen war Josefina Ludwig. Natalja Galetkina zitiert
die Aussage von Josefina Ludwig: " Wir sind keine Deutschen aber ich
musste 8 Jahre schuldlos in der Arbeitsarmee leiden. Ich habe die deutsche
Sprache bis dahin nie gehört, bevor ich zu den Deutschen kam. Ich dachte,
dass Deutsche alle sind, die deutsch sprechen, dass sie wie wir "
Chochlazki " sprachen. Ich habe kein Gramm ihrer Sprache verstanden." Wie
viele die Arbeitslager wegen Hunger und Überanstrengung nicht überlebt
haben, darüber gibt es z. Zt. keine Angaben. Es wird geschätzt, dass ? die
Lager nicht überlebten. Bei Kriegsende 1945 waren die Meisten noch einige
Jahre in den Lagern. Erst 1955 wurden die Internierten aus den Listen
"Spezielle Siedler" in der Kommandantur gelöscht und ab 1960 wurden die "
Holländer" erst wieder zur Armee zugelassen. Im Jubiläumsbuch bringt
Galina Makagon die neusten Angaben über Trudarmee und Repressionen - 2
Pichtinsker wurden erschossen. Einer davon ist der Großvater von Iwan
Sigmundowitsch Selent, dem heutigen Obmann für Menschenrechte. Er hat nach
1990 den Ort der Erschießung/ Beisetzung gefunden. Die letzte Ruhestätte
mit Gedenkstein wurde aus gefundenen Resten und Erde vom Ort der
Erschießung auf dem Friedhof von Pichtinsk eingerichtet. Der 2. war
Hiniborg Gustav Michailowitsch. Er wurde am 5.März 1938 verhaftet und am
8.Juli 1938 wegen Mitgliedschaft in einer konterrevolutionären
Organisation erschossen. Das schreibt sein Sohn Hiniborg Michail
Gustavowitsch auf S. 71/72 im Jubiläumsbuch. Er lebt heute in Sjukaika im
Gebiet Perm, 3 Pichtinsker wurden zum Freiheitsentzug von 10 Jahren
verurteilt. !937/38 bis 1955 fielen die Holländer unter eine besondere
Kontrolle des Staates durch den KGB. Es kam zur Ausmusterung aus der Roten
Armee Aus Pichtinsk wurden nur 5 Männer eingezogen, 2 wurden von der Front
abgezogen und zum Holzfällen, oder für Bauarbeiten in der Trudarmee
eingesetzt. wo sie auf Deutsche trafen. Nach Aufzeichnung des ZSN Irkutsk,
A.F. Smirnow wurden 105 Mitglieder in der Trudarmee gezählt, davon 84
Männer und 31 Frauen. 12 Menschen kamen im Alter von 23, 31,
33,36,38,39,49 Jahren zu Tode. Diagnose: offiziell Skorbut und praktisch
war es Hunger. Eine außergewöhnliche Begebenheit erlebte ich bei der
Begegnung mit Evgeniy Ginburg aus Schelechow. Sein Vater Karl Ginsborg war
u.a. in Tscheljabinsk in der Trudarmee und arbeitete dort mit am
Atomzentrum 40. Sein Freund, der Wolgadeutsche Heinrich Schneider war auch
dort eingesetzt. Er lebt als Spätaussiedler in Bad Lausick bei Leipzig in
Deutschland und schrieb einen Bericht. Evgeniy gab mir diesen Bericht und
ich nahm Kontakt mit E. Schneider auf. Der telefonische und briefliche
Kontakt hat mich sehr gerührt. Von der Leipziger Redaktion erhielt ich die
deutsche Übersetzung und Erwin Schneider schickte mir detaillierte
Informationen und auch das Gruppenbild von 1952/53. In der 1. Reihe vorn,
2. von links ist Ginsborg Karl und in der oberen Reihe, 2. von rechts ist
sein Freund Schneider. Alle Bilder werde ich Evgeniy nach Schelechow zur
Erinnerung an seinen Vater schicken.
Das Leben der Bug-Holländer
in Sibirien
Im Jubiläumsbuch und vielen Publikationen sind die
Geschichte und das Leben dargestellt. Es zeigt, dass nach Überwindung der
Anfangsschwierigkeiten die Holendry sich auch an die natürlichen und
gesellschaftlichen Bedingungen in Sibirien angepasst haben und
Fortschritte in den Lebens- und Arbeitsbedingungen erreichten. Anfang der
50-ger kamen die letzten Mädchen und Männer aus der Trudarmee zurück. Die
Jugend begann zu heiraten. Die Dörfer wurden größer. Schon die
Kollektivierung brachte einen tiefen Einschnitt in das traditionelle
Dasein als freier Bauer auf eigener Scholle aber ihre feste Bindung zum
Boden blieb noch erhalten. Mit Einsatz ihrer Fähigkeiten und Erfahrungen
haben die Holendry zur Verbesserung der Arbeit in der Landwirtschaft
beigetragen. Seit der Rückkehr der Männer aus der Trudarmee begann die
Wiedergeburt der Kolchosen. Es wurde fertig gebaut was vor dem Krieg
begonnen wurde wie die Anlage für die Milchkühe, der Schaf- und
Pferdestall. 1950 festigte sich ihre Kolchose und wurde mit den Kolchosen
"Pobjeda" in Staraja Metelka, "Kaganowitsch" in Zamostetsche und
"Mitschurin" in Dagnik, Nowiny und Tulusin Mit der Rückkehr der Männer aus
der Trudarmee begann die Wiedergeburt des Kolchos. Es wurde fertig gebaut
was vor dem Krieg begonnen wurde wie die Anlage für die Milchkühe, der
Schaf- und Pferdestall. 1950 festigte sich der Kolchos, der vereinigt
wurde mit den Kolchosen "Pobjeda" in Staraja Metelka, "Kaganowitsch" in
Zamostetsche und "Mitschurin" in Dagnik, Nowiny und Tulusin. Mit
Stimmenmehrheit wurde der Vater von Petr Ludwig zum Vorsitzenden gewählt.
vereinigt. Mit Stimmenmehrheit wurde der Vater von Petr Ludwig zum
Vorsitzenden gewählt. Im Winter des Jahres 1962 hörten die Menschen
erstmalig Radio. Die Stimme Moskaus ertönte. Es waren die lang ersehnten
Töne vom Radio die das Volk mit dem großen Erdball verbanden. Im
Juli/August 1967 verwirklichte sich der Traum von Iljitsch (Lenin) und in
der Taiga begann das goldene elektrische Licht zu leuchten. In den Dörfern
der Holendry haben dabei die Elektriker-Meister Julik Augustowitsch
Hildebrandt und Jurij Gustavowitsch Selent viel geleistet. Mit großer
wurde dieses Ereignis aufgenommen. Die Lebensqualität wurde besser. Am
Abend konnte man jetzt was tun - Bücher und Zeitschriften lesen,
Elektrogeräte benutzen oder Fernsehen, was nach 1970 möglich wurde. Die
Menschen bearbeiteten wie immer die Felder, führten ihre Wirtschaft und
erzogen die Kinder. Es kam die schwierige Zeit der Perestroika, mit den
radikalen Veränderungen mussten die bodenständigen Holendry fertig werden.
Aber die unüberlegte Einführung der Marktwirtschaft führte zur Auflösung
der Kolchosen, Vernichtung vieler Arbeitsplätze und zum Abwandern der
Jugend. Die Holendry haben darunter lange Zeit gelitten. Aber das
100jährige Jubiläum hat gezeigt, das sie auch diese wirtschaftliche Krise
bewältigen werden.
Vertiefung der Beziehungen und Kontakte zu
unseren Landsleuten
Die bisherigen Kontakte zu unseren Landsleuten
können nur als erster Beginn betrachtet werden. Nah dem ersten Besuch mit
Bruder Waldemar 2004 bestand die Reisegruppe zum 100jährigen Jubiläum aus
6 Landsleuten. Für mich war es eine Vertiefung schon bestehender
Beziehungen und das Knüpfen neuer Kontakte. Für die neu mitgereisten
Landsleute war es ein Auftakt für weitere neue und gegenseitige Besuche Im
Jahr 2009 erwarten wir als Gegenbesuch nicht nur eine Delegation aus
Sibirien zum Wolhyniertreffen in Linstow vom 5./6. September, sondern auch
persönliche Besuche der befreundeten Familien. Ich bin überzeugt, dass das
herausgebrachte Buch zum Jubiläum " PICHTINSK - Schicksal über
Generationen" in Russisch durch die geplante Herausgabe in Deutsch der
Vertiefung der Verbindungen zu unseren Landsleuten sehr dienen wird. Auch
eine Zusammenarbeit mit dem Wolhynier-Umsiedler-Museum Linstow, dem VDA
und der Freundschaftsgesellschaft Osteuropa in Mecklenburg-Vorpommern
sollte angestrebt werden.
zurück |